Über die Ausstellung „Intervalle“ im Korridor, Raum für aktuelle Kunst,  Wien


von Petra-Noll-Hammerstiel
Kuratorin


Diese Ausstellung mit dem Titel „Intervalle“ verbindet das Werk des Künstlers Michael Michlmayr, Fotos und Videos, und der Komponistin und Musikerin Katharina Klement, Elektronik und Zither.


Intervall (lat. intervallum) bedeutet Zwischenzeit, Unterbrechung, Abstand zwischen zwei Punkten. Intervalle sind offene unbestimmte Räume, Übergangszonen, Passagen, Korridore, durch die man von einem zeitlichen Zustand bzw. einer räumlichen Situation in eine andere wechselt. Spielfelder, Orte für (künstlerische) Fantasien, kreative Räume. Und dabei sind wir schon ganz dicht an der Kunst von Michael Michlmayr. In seinen Arbeiten – er zeigt Bilder und bewegte Bilder aus zahlreichen Werkkomplexen mit einigen neuen Werken – geht es schon lange um Zeit und Raum – nicht nur wichtige Kategorien unserer Wahrnehmung und Realitätseinschätzung, sondern auch relevantes Thema der Fotografie.


Zeit nehmen wir meist wahr an der Entwicklung und Veränderung bzw. Bewegung von Dingen und Ereignissen. Das ist die Dingzeit – im Gegensatz zum emotionalen Zeitgefühl. Diese Veränderungen begründen den Eindruck einer Richtung der Zeit. Aristoteles hatte die Auffassung, dass sich Zeit in unendlich viele Zeitintervalle einteilen lässt. Damit vertrat er die Vorstellung eines Kontinuums von Raum und Zeit. Der Mensch führte Zeitmessgeräte ein, um sich eine Ordnung zu schaffen.


MICHAEL MICHLMAYR: Diese Zeit-Raum-Ordnungen wirft Michael Michlmayr durcheinander, er stört, verschiebt die Zeitlinie, greift erheblich in die Bilder ein. Das geschieht nicht aus einer wissenschaftlichen Beweisführung heraus, sondern aus dem Empfinden, wie relativ, inhomogen und nicht linear Zeit ist, wie austauschbar Dinge, Abläufe und Personen sind, wie vielschichtig die Realität und deren Darstellung, wie undurchsichtig der Wahrheitsgehalt der Bilder ist.


Fotografien: Meist steht er an einem Ort mit einer fix montierten Kamera und beobachtet alltägliche Ereignisse und ablaufende Handlungen im urbanen Raum, Verschiebebahnhöfen, Straßen, Plätzen, in Flugzeugen oder in der Natur. Die Motive sind nicht inszeniert. Er fotografiert zeitversetzt in kürzeren oder längeren Intervallen und gibt damit einen subjektiven Rhythmus vor. Ein Moment des Innehaltens, der Reflexion, die Erfahrung von Zeit. Zeitlosigkeit. Die Einzelbilder werden danach nahtlos zu einem Fototableau montiert. Oder die Fotos sind Stills aus einem ebenso in Sequenzen zerlegten Videofilm. Durch die Parallelschaltung verschiedener Raum- und Zeitebenen in einem Bild wird Gleichzeitigkeit von Ereignissen und Handlungen suggeriert.


Die künstlerischen Eingriffe in das Bild sind variantenreich: So geschehen Veränderungen durch Vervielfältigung und Aneinandersetzung des gleichen Motivs, wie zum Beispiel bei dem Wurm (Mutation). Grüngasse #1 besteht aus montierten Fotos von mehreren Spaziergängen: Zu sehen sind die Schatten eines Baumes zu verschiedenen Zeiten in einem Bild. Swarm – eine Kombination von Flugzeugen und Insekten, wie es sie so nie geben kann – ist das Resultat der Schichtung von Einzelbildern.


In Planescape #3 – Watching the sun, sieht man durch im gleichen Flugzeug befindliche Fenster die Sonne fälschlicherweise immer anders, Resultat einer filmischen Zeitdehnung. Le Phantome du Passé  zeigt komprimiert, wie vier Sekunden lang der steinerne Rest einer Bunkeranlage aus dem II. Weltkrieg an der Westküste von Frankreich von Wellen umspült wird und dabei unter dem Wasser verschwindet bzw. wieder auftaucht, wobei jedes Stadium der Umspülung/ Bewegung im Bild ablesbar ist. Dadurch, dass es ebenso von links nach rechts wie auch von oben nach unten lesbar ist, wird das Motiv abstrahiert und die Verdichtung von Zeit und Raum ein weiteres Mal unterstrichen. Bus Stop sind Fragmente  aus einem Video, in dem die Zeit angehalten wurde und der Bus dadurch, dass er als einziger der Fahrzeuge anhielt, in eine unfassbare Länge gedehnt wurde. In seinen Sonnenbildern geht es Michael Michlmayr darum, Zeitverlauf und Raumgefühl durch Licht darzustellen. In dem Projekt Die Sonne vor meinem Fenster hat er mit extremer Langzeitbelichtung über viele Tage jeweils 24 Stunden lang die Landschaft vor seinem Fenster fotografiert und die „Sonnenbahn“ mit ihrer sich ändernden Position, Intensität und Lichtqualität während dieser Zeit abgebildet. Während der Fotograf ­bzw. die Kamera immer am gleichen Standort im Atelier blieb, war die Außenwelt ständig in Bewegung. Das Foto Réferénce zeigt die Überlagerung der Sonnenlichtbahnen, eine Komprimierung des Zeitverlaufs von 36 Tagen. Das SW-Bild, das farbliche Werte zeigt sowie die durch intensives Sonnenlicht entstandene Verletzung des Negativs sichtbar macht, vermittelt die Stimmung von Poesie und Zeitlosigkeit bzw. Überzeitlichkeit. Die Sonne – 20 Tage zeigt nur Sonnentage. Die Sonne – Tag 28 #2 ist ein Tag daraus.


Videos: Auf vier Monitoren sind jeweils mehrere geloopte Kurzvideos zu sehen, die teilweise inhaltlich und visuell mit den ausgestellten Fotos korrespondieren. Technisch wird auch hier die lineare Zeitleiste zerlegt. Die Zeit wird gedehnt oder gerafft. Diese Schnitte sind visuell einem Notensystem nicht unähnlich. Oder die Zeitrichtung wird verändert: So kann sich ein Eiswürfel nachdem er geschmolzen ist, wieder aufbauen (Re-Conversion).


In Théatro oder Passages rurales tauchen Menschen bzw. Kühe auf, gehen voran, bleiben stehen, verschwinden in merkwürdigen Zeit-Raum-Konstellationen. Dies wird erreicht durch eine ästhetisch-künstlerische Schnitttechnik. Der Gewinn ist ein neues Verständnis von Raum und Zeit. Oder eine Situation wird vervielfacht, wie bei Blue Sky.


Durch den Einsatz von Ton – entweder der Originalton der Situation – wie etwa Flugzeuge – oder z.B. ein Metronom werden die Stimmungen noch verstärkt.


Das Video Revisiting the past (die Vergangenheit überdenken) ist die Beschäftigung des Künstlers mit seinem persönlichen Bildarchiv zwischen 1981–2000. Eine Auswahl von Negativstreifen daraus hat er kurz in die Hände genommen, umgedreht, betrachtet und diesen Akt abfotografiert und zu einem Film zusammengefügt. Vieles ist fragmentarisch, Inhalte oft unklar durch den rasanten Durchlauf des Films, das nur flashartige Aufblitzen der Fotos, die Verwendung transparenter Negativstreifen, die Überblendung und Drehung der Streifen. Es wird der Akt des Betrachtens thematisiert. Im Hintergrund klickt in regelmäßigen Abständen die Kamera, wodurch der Akt des analogen Fotografierens und damit das direkte Involviertsein betont wird. Der lineare zeitliche Ablauf des Mediums Video wird gebrochen.


Partitur#6, ein Foto mit Stromkabeln wie Notenlinien und einem Kabel wie ein Notenschlüssel, ist sozusagen das Logofoto der Ausstellung; es verbindet bildende Kunst und Musik.


KATHARINA KLEMENT, Konzert zur Vernissage am 16.10.:


Die Komponistin und Musikerin hat mit Zither und Elektronik performt. Dabei hat sie sich dem Thema „Intervall“ auf mehreren Ebenen angenähert. Sie hat überwiegend mit Wiederholungen, Varianten in der Schleifenbildung, aperiodischen und periodischen Zyklen, mehreren Geschwindigkeiten gleichzeitig, Schnitt und Verdichtung gearbeitet. „Intervall“ wurde sowohl zeitlich als auch spektral untersucht und ausgespielt, den bildlichen Darstellungen von Michael Michlmayr gegenübergestellt.


Die Aufführung war in sechs Teile gegliedert, die ineinander übergegangen sind. Instrumental und synthetisch erzeugte Klänge verbanden sich mit konkreten Klängen (Field recordings).


Im ersten Teil wurden die Verhältnisse von zeitlichen Intervallen bzw. Proportionen als rhythmische, perkussive Muster hörbar.


Im zweiten Teil erklangen die klanglichen Intervalle Prim und Oktav bei gleichzeitiger Akkumulation von ähnlichen, fast identen Klangereignissen. Diese wurden im Live-elektronischen Speicher eines Loopers eingefangen und geschichtet.


In Teil 3 wurden Klangereignisse in einer vorgegebenen Reihenfolge auf- und wieder abgebaut.


In Teil 4 waren ab- und aufsteigende Linien, sogenannte Glissandi, kontinuierliche Verstimmungen, das Thema.


Im fünften Teil ging Klang in Rauschen über und vice versa. Unter anderem wurde Klang von schmelzendem Eis verwendet – inspiriert von einem Video von Michael Michlmayr.


Im Teil 6 war das musikalische Motiv ein sich wiederholendes Muster von bestimmten Basstönen, ähnlich einer „Passacaglia“ (spanischer Volkstanz, kontinuierliche Variation im ¾ -Takt). Mittels eines kleinen Körperschallwandlers, der direkt auf die Saiten der Zither gelegt wurde, wurde dieses Motiv wieder zurück ins Instrument gespie(ge)lt. Es baute sich eine sogenannte Rückkoppelung (oder Feedback)  auf – klanglich war dies als ein mehr oder weniger hohes Pfeifen zu hören.






About the exhibition “Intervals” at Korridor, Space for Contemporary Art, Vienna

by Petra Noll-Hammerstiel

Curator


This exhibition titled "Intervals" connects the works of artist Michael Michlmayr, including photos and videos, with those of composer and musician Katharina Klement, who uses electronics and zither.


The term "interval" (from Latin intervallum) refers to a span of time, an interruption, or a distance between two points. Intervals are open, undefined spaces—transition zones, passages, corridors—through which one moves from one temporal state or spatial situation to another. They are playfields, places for (artistic) imagination, creative spaces. This brings us closely to the art of Michael Michlmayr, whose works—displaying images and moving images from various bodies of work along with some new pieces—have long dealt with time and space. These are not only crucial categories of our perception and assessment of reality but also relevant themes in photography.


We usually perceive time through the development and change or movement of things and events. This is the time of objects, as opposed to emotional time perception. These changes create the impression of a direction of time. Aristotle held that time can be divided into infinitely many time intervals, supporting the idea of a continuum of space and time. Humans developed timekeeping devices to establish order.


MICHAEL MICHLMAYR: Michlmayr disrupts these time-space orders, disturbing and shifting the timeline, significantly intervening in the images. This is not based on scientific evidence but on the feeling of how relative, inhomogeneous, and nonlinear time is—how interchangeable things, processes, and people can be—how complex reality and its representation are, and how opaque the truth value of images can be.


Photographs: He often positions himself in one place with a fixed camera, observing everyday events and actions occurring in urban spaces, shunting yards, streets, squares, on airplanes, or in nature. The subjects are not staged. He photographs with time delays in shorter or longer intervals, establishing a subjective rhythm—a moment of pause, reflection, and experience of time. Timelessness. The individual images are then seamlessly assembled into a photo tableau, or the photos are stills from a video film that has been broken down into sequences. By parallelizing different spatial and temporal levels in one image, simultaneity of events and actions is suggested.


The artistic interventions in the image are varied: changes occur through the replication and juxtaposition of the same subject, as seen in the work Wurm (Mutation). Grüngasse #1 consists of assembled photos from several walks: the shadows of a tree at different times are shown in one image. Swarm combines airplanes and insects, an impossible reality achieved through layering individual images.


In Planescape #3 – Watching the Sun, the sun is seen differently through windows in the same airplane, a result of cinematic time stretching. Le Phantome du Passé compresses the scene of the stone remains of a WWII bunker on the west coast of France being washed by waves for four seconds, disappearing and reappearing, with each stage of the washing/movement legible in the image. The motif is abstracted as it can be read both from left to right and from top to bottom, further emphasizing the compression of time and space. Bus Stop features fragments from a video where time was halted, stretching the bus—being the only vehicle to stop—into an unfathomable length. In his sun images, Michlmayr aims to represent the progression of time and sense of space through light. In the project Die Sonne vor meinem Fenster, he photographed the landscape outside his window over many days using extreme long exposure, capturing the "sun path" with its changing position, intensity, and quality of light during that time. While the photographer and camera remained in the same location in the studio, the outside world was in constant motion. The photo Réferénce shows the overlay of sunlight paths, a compression of the time span of 36 days. The black-and-white image, revealing color values and damage to the negative caused by intense sunlight, conveys a mood of poetry and timelessness or supertemporal quality. Die Sonne – 20 Tage shows only sunny days. Die Sonne – Tag 28 #2 is one of those days.


Videos: On four monitors, multiple looped short videos are displayed, some of which correspond visually and thematically with the exhibited photos. Technically, the linear timeline is also deconstructed here. Time is stretched or condensed. These cuts are visually similar to a musical score. The direction of time can also be altered: for instance, a melting ice cube can reassemble itself (Re-Conversion).


In Théatro or Passages rurales, people and cows appear, moving forward, stopping, or disappearing in strange time-space constellations. This is achieved through an aesthetically artistic editing technique. The result is a new understanding of space and time. Or a situation is multiplied, as in Blue Sky.


The use of sound—whether the original sound from the situation, such as airplanes, or a metronome—intensifies the moods.


The video Revisiting the Past engages the artist with his personal image archive from 1981–2000. A selection of negative strips was briefly handled, turned over, examined, and photographed during this act, culminating in a film. Much is fragmentary, with content often unclear due to the rapid flow of the film, the flash-like appearance of photos, the use of transparent negative strips, and the overlap and rotation of the strips. The act of viewing is thematized. In the background, the camera clicks at regular intervals, emphasizing the act of analog photography and direct involvement. The linear temporal progression of the video medium is disrupted.


Partitur #6, a photo of electrical cables resembling musical staffs with a cable as a clef, serves as the exhibition’s logo photo, connecting visual art and music.


KATHARINA KLEMENT, Concert at the Opening on October 16:


The composer and musician performed with zither and electronics, approaching the theme of "interval" on several levels. She predominantly worked with repetitions, variations in looping, aperiodic and periodic cycles, multiple speeds simultaneously, cutting, and condensation. "Interval" was explored both temporally and spectrally, juxtaposed against Michlmayr’s visual representations.


The performance was divided into six parts that flowed into one another. Instrumental and synthetically produced sounds merged with concrete sounds (field recordings).


In the first part, the relationships of temporal intervals or proportions were audible as rhythmic, percussive patterns.


In the second part, the sonic intervals of a major and octave occurred alongside the accumulation of similar, nearly identical sound events. These were captured and layered in the live electronic memory of a looper.


In part 3, sound events were built up and taken down in a predetermined sequence.


Part 4 featured ascending and descending lines, known as glissandi, and continuous detuning as the theme.


In the fifth part, sound transitioned into noise and vice versa. Among other things, sounds of melting ice were used, inspired by a video by Michael Michlmayr.


In part 6, the musical motif was a repeating pattern of specific bass tones, similar to a "passacaglia" (a Spanish folk dance with continuous variation in 3/4 time). Using a small body transducer placed directly on the zither's strings, this motif was fed back into the instrument, creating a so-called feedback effect, heard as a high-pitched whine.






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"The realism of photography creates confusion as to what is real" Susan Sontag